Park am Steinhübel
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Florian Jäger
Die Zahnbürste
Immer wenn ich nach dem Aufstehen oder der Arbeit ins
Badezimmer komme, prüfe ich als erstes, ob die Zahnbürste
daliegt. Wie der Pawlowsche Hund öffne ich die Tür lechzend und
mit erhöhtem Speichelfluss, um pünktlich mit dem Erkennen des
dünnen länglichen Gegenstands in ein Lächeln zu verfallen und
das warme Gefühl des Glücks, das mir großzügig zuteilwird,
dankbar in Empfang zu nehmen. In diesen Momenten merke ich,
dass ich nicht alleine bin. Zwei Mal am Tag liegt die Zahnbürste auf
der Ablage links neben dem Waschbecken, akkurat ausgerichtet,
parallel zur Kante. Auf den harten Borsten ist die Zahnpasta immer
schon ein wenig eingesunken, aber das macht nichts.
Es gibt da diesen Film, Der Tag des Falken. In dem wird einem
Liebespaar durch einen eifersüchtigen Bischoff das Zusammensein
unmöglich gemacht – er ruft eine dunkle Macht an, die die beiden
verflucht: Fortan verliert der männliche Part, Navarre, nachts seine
menschliche Gestalt und wird zum Wolf. Ruhelos streunt er
zwischen Bäumen und Büschen. Sie hingegen, Isabeau, verliert
ihre menschliche Gestalt tagsüber und wird zum Falken. So
können sich die beiden nie als Menschen begegnen, ihre einzige
Verbindung sind die kurzen Momente des Sonnenauf- und -
untergangs.
Unsere einzige Verbindung ist die Zahnbürste.
Während ich am Nachtschalter vom Hotel Bruchwiese arbeite,
ist mein Partner tagsüber für das Zahngoldrecycling am Malstatter
Markt tätig. Wenn mein Partner morgens unsere Souterrain-
wohnung verlässt, liege ich gerade erst schlafend im Bett. Wenn
ich mittags aufstehe, ist er längst im Büro. Und wenn ich am frühen
Abend zur Arbeit gehe, ist er noch nicht wieder zurück. Auch wir
sind verflucht.
Die einzigen Momente, in denen wir uns begegnen – einmal
abgesehen von der Zeit, in der mindestens einer von uns tief
schlafend im Bett liegt – sind die Momente, in denen entweder
mein Partner mir oder ich ihm die Zahnbürste vorbereite.
Diejenigen, in denen wir die vom anderen vorbereitete
Zahnbürste entdecken, und uns mit ihr die Zähne putzen.
Natürlich, diese Art zu leben ist bestimmt nicht, was wir uns
vorgestellt haben, und manchmal bin ich traurig deswegen.
Sicherlich geht es meinem Partner genauso. Aber wir haben die
Hoffnung auf Lösung des Fluchs noch nicht aufgegeben – Navarre
und Isabeau haben es schließlich auch geschafft, und am Ende
den bösen Bischoff besiegt.
Was uns hilft, sind die kleinen Rituale, die sich zwischen uns
eingeschlichen haben. Wir legen die Zahnbürste immer an genau
dieselbe Stelle auf der Badezimmer-Ablage, in einer Distanz von
exakt zwei Zentimetern zur Kante. Da wir Genauigkeit schätzen,
habe ich ein Lineal auf die Fläche gelegt, welches wir beide
nutzen. Wir verwenden die Zahnbürste als Mittel der
Kommunikation. Will einer von uns dem anderen etwas mitteilen,
weichen wir ab von der gewohnten Ordnung, drehen beim
Hinterlegen die Zahnbürste leicht zu einer Seite. Eine Drehung im
Uhrzeigersinn deutet etwas Positives an, gegen den Uhrzeigersinn
etwas Negatives. Der andere bestätigt diese Mitteilung dann,
indem er die Zahnbürste in der exakt selben Weise zurücklegt.
Mag die Verbindung auch klein wirken – es lässt sich eine
Menge aus ihr machen. Man muss nur an Navarre und Isabeau
denken, die hartnäckig um ihre Liebe gekämpft und gewonnen
haben. Und das, obwohl die Verständigung zwischen Mensch und
Falke und Wolf und Mensch sicherlich komplizierter ist als die
zweier Menschen, die immerhin dasselbe Medium zur
Kommunikation nutzen. Die Zahnbürste.
Man muss sich eben etwas einfallen lassen. Das tun wir: Damit
sich wenigstens ein Teil unserer Körperstoffe berührt, benutzen
wir stets dieselbe Zahnbürste. Es ist schön zu wissen, dass die
Bürste, die jetzt durch meinen Mund wischt, ein paar Stunden
zuvor seine Zähne, seine Zunge, seine Lippen berührt hat. Und es
in ein paar Stunden wieder tun wird, nachdem sie meine Zähne,
meine Zunge und meine Lippen berührt hat. Sicher empfindet
mein Partner das genauso.
Und auch auf die Gefahr hin, dass das komisch klingt, muss ich
es einmal aussprechen: Manchmal, wenn ich schon den gröbsten
Schaum ausgespuckt habe, mit ein wenig Wasser die letzten Reste
Zahnpasta gurgle und in einem Schwall ins Waschbecken gebe, ist
mir, als könnte ich den Falken und den Wolf vor mir sehen, auf
einer Wiese oder einem Hügel. Ich höre sie in ihrer Sprache rufen.
Nicht zueinander, nein, einfach hinaus, in die Welt. Ich schäme
mich wirklich deswegen, denn darauf folgt nicht selten ein
erhabenes Gefühl der Freiheit. Und der Gedanke, dass die
erzwungene Trennung im Grunde gar kein Fluch, sondern das
genaue Gegenteil ist, ein Segen. Ich grinse dann immer etwas
blöd in den Spiegel und vergesse für einen Moment, dass ich nicht
allein sein kann.