Haupteingang Friedhof St. Johann

49.237584, 7.011242

Isabell Schirra

 
©Christian Hell

Isabell Schirra

*01.02.1995
studium literaturwissenschaft.
beiträge zur literatur-forschung.
freie mitarbeit bei zeitungen und magazinen.
dazwischen: kleine und kleinste literarische schreibversuche.

Foto: ©Christian Hell

stadt, ich

die stadt blieb für mich immer nur die stadt. kein präfix, nicht zwei silben mehr. nur stadt. keine heimat. daran änderten auch in ihr aufwachsen, lieben, leiden, die meiningen dort zu grabe tragen nichts. die stadt war die stadt und die menschen in ihr waren die menschen in ihr und zusammengenommen war das eine einzige bedrohlich wabernde masse, grau und leblos und ohrenbetäubend stumm, und immerzu hatte ich angst, dass die masse mich verschluckt. die masse verschluckt menschen. sie nimmt sie auf, saugt sie aus, macht sie grau, und leer und eindimensional. sie kaut sie klein, speichelt sie ein, verdaut sie dann bis sie nur noch als klitzlekleiner anteil, als fetzen, in der großen grauen masse enthalten sind und niemand sich an sie erinnert so recht, auch sie selbst nicht. die masse wabert fröhlich fort. fröhlich und furchterregend. fröhlich und
furchterregend wabert die masse durch die stadt, wabert die masse mit der stadt. die stadt hat vier stadtbezirke. die stadt hat 16 brücken. die stadt hat sogar ein schloss. sie hat keinen friedhof für die verschluckten, grau und leer und eindimensional gemachten, kleingekauten und eingespeichelten und nur noch als anteil in der großen grauen masse enthaltenen menschen. sie erinnert ihrer nicht.
das muss so sein. trotzdem macht es die stadt verdächtig. verdächtiger. sie verschleiert sich selbst. stadt-angst essen seele auf. meine zumindest. oder vielmehr: was noch davon übrig ist. die stadt-angst verlangt nach vorsicht. nach um-die-ecken-schauen. nach trittsicherheit-prüfen. nach sich-zweimal-umdrehen. nach lieber ein-schritt-schneller-gehen. der stadt einen schritt voraus sein.
der stadt, die für mich immer nur die stadt geblieben ist. nicht eine stadt. die stadt. die stadt, die mir nach so vielen jahrzehnten immer noch fremd war. die einem schon seit urzeiten fremd sein musste. die stadt, deren flüstern so laut war und deren farben zu blass. die noch bis in die hintersten ecken mit einer bedrohlich wabernden masse, grau und leblos und ohrenbetäubend stumm, gefüllt
war.wer noch nicht teil der masse war, befand sich in gefahr es zu werden. der floh. bis zu den stadtmauern. denn gehen, so ganz und gar, durfte in dieser stadt niemand. wer auf der flucht war, der drückte sich an den stadtmauern herum, machte sich schmal und unsichtbar und leise, der kroch fast in die ritzen der stadtmauern hinein. manche blieben dort für immer, machten sich dort ein heim. sie glotzen mit großen augen aus der stadtmauer heraus. sie sind hart geworden. zwar nicht wabernd und grau und leblos und ohrenbetäubend stumm dafür aber hart wie stein.ich will
nicht wabernd und grau und leblos und ohrenbetäubend stumm werden. und ich will nicht in die wand gehen. aus ihr heraus glotzen. hart sein wie stein. manchmal zieht es mich zum wasser, unten zum fluss. die stadt hat auch einen fluss. oder vielmehr: der fluss hat die stadt. nicht verdient gehabt. der fluss ist mir das liebste in der stadt. falsch. das einzige liebe. immer schon habe ich für den fluss eine seltsame art von zärtlichkeit empfunden. zweimal im jahr, mindestens zweimal im jahr, läuft der fluss über. er tritt über sein ufer. flutet die auen. manchmal auch die autobahn. der fluss trägt keine schuld daran. schuld sind die stadt-männer und bestimmt auch einige stadt-frauen, die dem fluss sein bett gemacht haben. neu gemacht. falsch gemacht. die den fluss beschnitten und eingeengt haben, ihm zu wenig platz gaben, weil sie ihn klein und gerade und seicht haben wollten. und dann, zweimal im jahr, mindestens zweimal im jahr, wenn der fluss nicht mehr länger klein und gerade und seicht sein kann, fühle ich mich sehr verstanden von ihm. weil auch ich sie kenne. die gefahr überzulaufen. die angst davor. kann man so voll mit sich sein, dass man ständig angst haben muss überzulaufen? überzuquellen, aufzuplatzen, risse zu bekommen? zu viel zu sein für das von stadt-männern und stadt-frauen gemachte bett, in dem nur platz findet,
wer klein und gerade und seicht ist? und dann, für einen augenblick, nur einen winzigen augenblick, lasse ich den gedanken zu, was passieren würde, wenn ich losließe. wenn ich meine muskeln und sehnen, so lange schon verstarrt, fast schon versteinert, entspannte, wenn ich den versuch aufgäbe, es, mich, zusammenzuhalten, in form zu halten. wie es wäre, wenn ich mich einfach überlaufen ließe. ich stelle mir vor, wie ich die auen flute. vielleicht auch die autobahn. die ganze stadt. ich stelle mir vor, wie ich jede zurückhaltung verliere, überborde, frei und forsch und unverschämt werde. wie ich in die letzen ecken dieser stadt fließe. wie ich die bedrohlich wabernde masse, grau und leblos und ohrenbetäubend stumm, in mir auflöse, bis sie nur noch als klitzekleiner anteil, als fetzen, in mir enthalten ist. nur noch eine blasse erinnerung. ich stelle mir vor, wie ich in
die letzten ecken dieser stadt fließe. bis sie zu meiner stadt wird, mir gehört. bis sie heimat ist.

 
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