Spielplatz am Kaninchenberg

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Tanja Begon

 

Tanja Begon

Studierte Leserin sehr alter und mittelalter Geschichten, verdient ihr Geld damit, als Freelancerin Geschichten für Unternehmer:innen und Kreative zu erzählen.
Das nennt man dann „texten“. Literarisch schreibt sie üblicherweise für die Schublade und neuerdings auch für Parkbänke.

Foto: © Michaela Reinhard

Gedankenflirren
Eva zündet sich eine Zigarette an, von den anderen Müttern skeptisch beäugt. In den Mamiwars gibt das Minuspunkte für asoziale Schwäche. Aber hier wird das niemand offen sagen, denn sie sitzt, wohlbedacht, auf der Schranke, abseits vom Spielplatz. Die Meinung wird nur hinter Rücken und auf Twitter formuliert, denkt Eva, wo sie mit dem Hashtag #Grauzonenltern dagegen halten wird: Denn eine Stütze ist eine Stütze. Nur ein paar Minuten, um mal in Ruhe nachzudenken.
Luisa ist heute bei Friedericke zum Spielen, deshalb ist Eva nur mit Tim hier. Die Sonne wärmt ihr das Gesicht, während Tim vom Sandkasten aus winkt. Er hat eine Schaufel entdeckt! Gott sei Dank. Sie kann sich für sieben Minuten vom Schaukelschubsen befreien. Diese Maßeinheit funktioniert aber nur mit Filterzigaretten: eineinhalb Minuten hin zum Raucherraum eineinhalb Minuten zurück. Zehn Minuten durfte die BAU dauern, wie sie die Bildschirmarbeitsunterbrechung damals im Callcenter abgekürzt hatten. Selbstgedrehte gaben einen Anschiss, an denen rauchte man länger. Wie gut, dass sie sich von diesem Laden verabschiedet hat.
„Machs gut, Jonathan!“, ruft die blonde Mutter mit dem senfgelben Loop dem kleinen Brezelmonster hinterher, das gerade noch unter Tims gestrengem Blick die ganze Tüte mit den Salzbrezeln leer gefuttert hätte, wenn Eva nicht eingeschritten wäre. Obwohl seine Mutter, dafür würde Eva ihre Mate verwetten, bestimmt mehrere Tupperdosen voller eigener Snacks dabei hatte. Aber bei anderen schmeckt es immer besser.
Das ist ein Gesetz der Menschheit, denkt sie, genauso wie das Gesetz, dass Chefs einfach keinen Text freigeben können, ohne etwas korrigiert zu haben, ganz gleich wie fadenscheinig es sei. Der Strasser hatte ihr heute Morgen die ganzen Titel fürs Cover versaut, weil sie ihm nicht „präzise genug“ formuliert waren. Morgen werden sie eine neue Korrekturschleife drehen, weil der Satz verhunzt ist und die Zeilen nicht mehr passen. Was will man machen?
Der kleine Brezeldieb ist noch nicht so weit gekommen, er hockt sich an der Ecke hin und versucht – unter Protest – die gelöste Schleife am Schuh selbst zu binden. Sie hat Mitgefühl mit seiner Mutter und noch seinen Geruch in der Nase, nach Calendula, dieser Kinderpflegecreme von Weleda, nach der im Piklerkurs alle Babys gerochen haben. Auch Luisa und Tim.
Die beiden haben Eva und Alex impfen lassen. Das haben ja nicht alle aus dem Kurs gemacht. Manche der anderen Mütter hatten sie auf diese Information hin betrachtet, als sei sie ein böser Mensch. Aber sie raucht ja auch. Wieder angefangen, als Tim drei war. Dumm – Ja klar.
Heute Morgen beim Bäcker die zwei Frauen, die sich darüber unterhielten, dass sie sie sich mit Antibrumm einsprühen, um nicht von Mücken gegen Corona geimpft zu werden. „Das würde vieles einfacher machen“, denkt Eva, während das Surren um ihre Ohren lauter wird. „Ist das eigentlich normal, dass die Mistviecher jetzt schon wieder fliegen?“, denkt sie und bläst das Insekt mit ihrer Rauchschwade an. Es trollt sich. Nicht so Tim, der jetzt an ihr hoch klettern will: „Nein Spatz, jetzt bitte nicht, ich stinke doch noch hier rum. Geh noch ein bisschen schaukeln. Ich komme gleich und schubse dich an – versprochen!“
SCHEISSE! Sie hat vergessen, die E-Mail mit der Tabelle an Frank abzuschicken. Zwei Stunden hat sie sich damit rumgeschlagen, damit es heute noch fertig wird. Das Telefon klingelte. „Okay“, hatte sie gedacht, „gleich muss ich das noch machen“ und dann – vergessen! Brot muss sie nachher auf dem Heimweg noch kaufen, sonst gibt es Wutgezeter zum Frühstück. Müsli geht nämlich nur, wenn man auch Brot haben könnte. Vielleicht kauft sie dann auch gleich noch Salzbrezelchen. Der kleine Jonathan hat die Vorräte ja empfindlich dezimiert.
Jonathan … Wie es dem wohl jetzt geht? Sie war erschrocken, ein klein bisschen erschüttert, als er sich von ihr verabschiedete. Er würde bald wegziehen, sie würden sich dann nicht mehr treffen.
Jeden Morgen auf dem Weg zur Kita, der knappe Gruß auf dem Rad, wenn sie aneinander vorbeifuhren. Mit dieser kleinen Freude im Bauch, die nur zufällig Vertrautes schaffen kann. Zumindest in Evas Bauch. 
„Mama! Guck mal!“ – „Ja ich gucke mein Schatz! Das sieht super aus“ – „Mama! Komm mal!“ „Nein ich komme jetzt nicht, gleich. Bitte, noch drei Minuten!“ 
Wenn sie Tim und Luisa gleich nach Hause zu Alex bringt, kann sie mit dem Rad zum Supermarkt fahren, das geht schneller. Früher war da mal ein Baumarkt drin, quasi mitten in der Stadt. Einmal fuhr sie einen schweren Eimer Farbe von dort mit dem Einkaufswagen nach Hause, in ihre erste eigene Wohnung. Ist das schon lange her! 
Städte verändern sich. Nicht immer zum Guten. Darüber hatten sie sich unterhalten,als sie sich längst nicht mehr täglich auf dem Radweg am Fluss begegneten,sondern nur noch selten im Wald. Er hatte sie angesprochen und sie unterhielten sich, als wären sie einander bekannt. Erst als er nach ihrem Namen fragte, begann sie zu schwimmen, in einem Gefühl, das sie erst nicht richtig einordnen konnte. Sie war verlegen! Diese Verlegenheit, die einem die Röte in die Wangen treibt, die einen dazu bringt, törichte Dinge zu sagen oder sich in der Hundeleine zu verheddern.
Der kleine Hund auf dem Weg in den Wald lässt seinen Ball liegen und schnuppert an Evas Schuhen. Ein „weißes Wölkchen“, wie sie die Havaneser-Bichon-Frisee- kleinen-weißen-Hunde nennt, weil sie sie nicht auseinanderhalten kann. Sie hatte einmal nach dem Namen einer dieser Rassen gesucht und eingegeben: hunderassen ähnlich bichon frise. Da wurde ihr neben Zwergspitz und Westhighland- Terrier auch der Dogo Argentino vorgeschlagen.
Wo der Waldweg in Asphalt übergeht und er mit dem Rad hinter den Bäumen verschwand, wurden aus Evas Schwimmbewegungen beschwingte Schritte. Das Flattern in der Kuhle zwischen ihren Rippen amüsierte sie. Beim letzten Treffen – mehr als zufällige Treffen waren es ja nie – stolperte sie beim Abschied aus der Begegnung heraus auf den Asphalt, wollte weg, weil sie nicht wusste wohin mit sich. Dann blieb sie stehen, drehte sich um: „Machs gut, Jonathan“, sagte sie. Meinte es ernst. Ärgerte sich über sich selbst. Googelte ihn, schrieb ihm doch nicht. Wohin sollte das führen? Mehr als das Flirren des Lichts, das durch Weidenzweige fällt, war es nicht, durfte es gar nicht werden. Vielleicht nicht einmal das. Die sieben Minuten sind rum, sie drückt die Zigarette aus. Tim ist wieder da, duftet nach Calendula. Sie nicht. Scham formt einen kleinen Klumpen in dieser Kuhle zwischen ihren Rippen. Aber dafür ist keine Zeit. Sie müssen weiter, Alex wartet. Und wenn sie schon in den Supermarkt fährt, kann sie auch gerade Zucker kaufen, und aus den braunfleckigen Bananen zu Hause einen Kuchen backen.
 
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