Kreuzung Talstraße/Präsident-Baltz-Straße

 

49.224805, 7.000368

Ralph Schock

Ralph Schock

*1952 in Ottweiler (Saarland). Germanistik- und Philosophie-Studium. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Saar-Uni (1977 – 1984).
1984 Dissertation: „Gustav Regler - Literatur und Politik (1933 – 1940)“. 1978 Mitglied im Schriftstellerverband (VS),
2010 im PEN.
1987 bis 2017 Literaturredakteur beim Saarländischen Rundfunk.

Zahlreiche Gesprächssendungen mit Autor:innen bzw. zu literarischen Themen.

Literarische, journalistische und wissenschaftliche Publikationen in: Jahrb. für internat. Germanistik, Frankfurter Hefte, Die Feder, Kunst & Kultur, VS - Vertraulich, Frankfurter Rundschau, OPUS, saargeschichte(n), Sinn und Form, europe, Text-Kritische Beiträge, Streckenläufer, Neue Zürcher Zeitung, Schreibheft, Horen, Park, etc.

Herausgeber der Buchreihen „Spuren“ und „Abiturreden“. Mitherausgeber der Gustav-Regler-Werkausgabe.

Publikationen zur zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur. Veröffentlichungen zur saarländischen Landes- und Literaturgeschichte.

Zuletzt: „Kaffeeschmuggler und Steckdosenmäuse - Eine Kindheit in den 50ern“ (Verbrecher-Verlag, Berlin 2017).

Joseph Roth: „Die Rebellion – Roman“. Nach dem Manuskript ediert (Wallstein-Verlag, Göttingen 2019²).

„Also heraus und weit weg! Expressionismus - Eine Epoche und die Saarregion - Lese- und Bilderbuch“ (Conte-Verlag, St. Ingbert 2020).

„Nach Kolchis – Faszination Georgien – Reiseimpressionen“ (Verbrecher-Verlag, Berlin 2021).

Foto:© Ute Werner

VIERHUNDERTFÜNFUNDSECHZIG
In der Nacht vom 14. zum 15. März 1945 erwachte Philipp S. durch
einen eigenartigen Traum, wenige Minuten, bevor der Wecker wie immer
um viertel vor fünf zu läuten begann. Als er die Küche betrat, hatte seine
Frau Emma bereits das Feuer im Herd angezündet. Auf dem Holztisch
standen, wie seit Wochen schon, nur Brot, Marmelade und Ersatzkaffee.
Butter gab es schon lange nicht mehr, trotz des Abschnitts auf der
Lebensmittelkarte.
Was sie wohl zu bedeuten habe, meinte er zu seiner Frau, diese
seltsame Zahl, die ihm noch immer im Kopf herumspuke. Nie zuvor habe
er so etwas Seltsames geträumt.
Und bevor er sein Fahrrad aus dem Schuppen holte, um zum Werk
hinunterzufahren, wo ein paar Minuten später, Punkt sechs Uhr, mit
einem Sirenensignal die neue Schicht begann, schrieb er mit einem
Stück Kreide diese Zahl auf die linke Laibung des Küchenfensters: 465.
Und küsste flüchtig seine Frau zum Abschied.
Lange konnte der Krieg nicht mehr dauern, die Wehrmacht war seit
Monaten überall auf dem Rückzug. Frontbegradigung, nannten es die
Zeitungen. Zwei Monate zuvor, in der Nacht vom 12. zum 13. Januar,
hatte es die letzten schweren Bombenangriffe auf die Stadt und das
Eisenwerk im Zentrum gegeben, ein Kommentar der Alliierten zu der
Volksabstimmung zehn Jahre zuvor. Damals hatten über 90 Prozent für
die Rückkehr des abgetrennten Saargebiets zu Hitlerdeutschland
gestimmt.
Seit Monaten hatte Philipp keine Nachrichten mehr von seinen
beiden Söhnen. Philipp, der älteste, ein Konditor, kämpfte an der
Ostfront, der andere, Martin, in Jugoslawien. Nur Helmut, der Jüngste,
wohnte noch zu Hause. Er selbst war uk gestellt wegen seiner Arbeit auf
der Hütte.
Für die abschüssige Strecke von der Scheib hinunter ins Zentrum,
oder was davon seit Januar noch stand, brauchte er nur wenige Minuten.
Wegen zerstörter Schienen hatte die Straßenbahn den Betrieb längst
eingestellt.
Als an jenem Donnerstagmorgen um 6 Uhr 47 die Sonne über
einem wolkenlosen Himmel aufging, hatte Philipp S. schon zwei Fahrten
auf dem riesigen Werksgelände absolviert. Seit Jahren schon
transportierte er jeden Tag mit einer alten E-Lok flüssiges Eisen in
mächtigen Stahlwannen von den Hochöfen zu den Thomasbirnen, wo
unter gewaltigem Druck zwei- oder dreimal pro Schicht Sauerstoff durch
die glühende Masse geblasen wurde. Der ungeheure Lärm war in der
ganzen Stadt zu hören, und ohne Ohrenschützer wäre es in dem
Führerstand der Lok nicht auszuhalten gewesen. Nachts war das
Spektakel kilometerweit zu sehen. Die herausgeschleuderten Teile
schossen hell leuchtend in die Höhe, bevor sie rotglühend zur Erde
zurücksanken. Den Stahl, eine funkensprühende Masse, der aus den
Thomasbirnen in die Wannen zurückgekippt wurde, hatte er zum
Walzwerk zu fahren.
Wie für die Tage zuvor, so hatte das Radio auch für heute einen
heiteren und klaren Vorfrühlingstag mit angenehmen Temperaturen
angekündigt. Nach Schichtende, um 14 Uhr, würde er mit seiner Emma,
den Töchtern Hertha und Ruth und Helmut zum Kasbruch radeln.
Vielleicht gab es schon frische Brennesseltriebe. Lange konnte es nicht
mehr weitergehen, das wusste jeder. Wenn es auch nicht ratsam war,
darüber zu reden. Die Amerikaner standen schon tief in Lothringen.
An jenem 15. März flogen gegen Mittag die zwischen Paris und
Cambrais stationierten Verbände der 9. US-Air-Force mit Maschinen des
Typs B-26 Marander und A-26 Invader die Stadt Neunkirchen zwischen
3.500 und 4.500 Metern Höhe an. Eine Flak-Abwehr existierte nicht
mehr. Nach dem Alarm eilten die Menschen in die Bunker.
Ein Überlebender berichtete später, dass die im Formationsflug sich
nähernden Flugzeuge ausgesehen hätten wie ein einziger, silbrig
glänzender gewaltiger Vogelschwarm. Doch schon bald sei nur noch ein
fürchterliches Rauschen und Pfeifen zu hören gewesen, als die
Bombenpakete dicht nebeneinander herabzusegeln begannen.
Wenige Minuten zuvor, genau um 13 Uhr 13, waren die ersten
Tannenbäume über der Stadt abgesetzt worden. Fünfundsechzig Minuten
später drehten die letzten Maschinen nach der fünften Angriffswelle ab.
Eine amerikanische Kriegschronik listet auf: 205 Flugzeuge hatten
an diesem Tag 1.184 Bomben mit einem Gesamtgewicht von 345 Tonnen
abgeworfen. 84 Zwanzig-Zentner-Sprengbomben, 300 Zehn-Zentner-
Sprengbomben, 60 Ein-Zentner-Sprengbomben, 186 Zwei-Zentner-
Splitterbomben und 554 Fünf-Zentner-Bündelbrandbomben. „Aus
Planquadrat "Siegfried-Paula-Sieben" flogen die Bomberwellen das im
Planquadrat "Toni-Paula-fünf"; liegende Neunkirchen an“, so die dürre
Notiz auf einer Nachrichtenkarte der deutschen Luftabwehr.
Die Stadt brannte achtundvierzig Stunden lang, 93 Menschen
starben.
Zwei Tage später, am Vormittag des 17. März, überbrachte ein
Polizist Philipps Frau einen Auszug aus dem standesamtlichen
Sterberegister. Dieses Dokument, sagte er, müsse sie bei der
Beantragung ihrer Witwenrente vorlegen. Als Zeitpunkt seines Todes war
der 15. März, 14 Uhr, angegeben. Die Todesursache: Gefallen durch
Fliegerangriff in der Langenstrichstraße. Im amtlichen Sterberegister der
Stadt war der Tod meines Großvaters erfasst unter der laufenden
Nummer vierhundertfünfundsechzig.
In der Nacht vom 19. zum 20. März befreiten amerikanische
Truppen die Stadt. Mehrere Wochen lang, erzählte man später in der
Familie, habe niemand die Zahl am Fenster wegzuwischen gewagt.
 
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