Halbinsel an der Bismarckbrücke

 

49.226708, 7.003383

Frederik Dressel

Frederik Dressel

*1987 in Saarbrücken, lebt im Stadtteil Alt-Saarbrücken.
Mit dem Schreiben beginnt er, nachdem er in der neunten Klasse Heinrich Bölls “Die verlorene
Ehre der Katharina Blum” gelesen hat – und hört danach nie mehr damit auf.
Während er anfänglich noch schamlos den Stil des großen Nachkriegsautors kopiert, kann er sich rasch von seiner Tendenz zur Pastiche befreien und hat seit 2012 mal mehr und mal weniger das Gefühl, seine eigene Stimme gefunden zu haben.
Schreibt er während des Studiums der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaften an der Universität des Saarlandes noch hauptsächlich für die berühmte 'Schublade' (und die Saarbrücker Zeitung), findet Dressel in den Kürzestgeschichten auf story.one 2021 seine Form – und schafft es mit seiner ersten Veröffentlichung Frauenbilder (Wien: story.one publishing, 2021) direkt auf die Longlist des Young Storyteller Award 2021.
Wenn er gerade einmal nicht schreibt, unternimmt er gerne Spaziergänge durch die saarländische Landeshauptstadt oder beschäftigt sich zunehmend professionell mit Wein.

WEITERE VERÖFFENTLICHUNGEN
2022 Der schönste Vorort von Paris. Sammlung von 17 Kurzgeschichten.
Wien: story.one publishing, 2022. [ISBN 978-3710819865 ]

Foto: privat

DIE TOTE BRÜCKE
Es gab eine Zeit im Sommer, da war ich jede Woche hier, manchmal sogar zweimal. Da gehörte die ‘tote Brücke’ zu meiner Laufrunde an der Saar, war es hier, dass ich den Fluss überquerte, der Saarbrücken teilt.
Und doch bin ich in all den Jahren noch nie nachts hier gewesen, hat mein Weg mich zwar manches Mal zum nahe gelegenen Silo am Osthafen geführt, aber noch nie hierher. Noch nie auf die Brücke, die einmal den Stadtteil St. Arnual mit einem Industriegebiet auf der anderen Flussseite verbinden sollte, das in den 70er Jahren zwar geplant, letztlich aber nie gebaut wurde.
Selbst im Dunkeln ist das Bauwerk, das an das städtebauliche Malheur erinnert, von Weitem zu erkennen, thront die massive Betonkonstruktion wie eine gewaltige Gürtelschnalle über der Saar. Und kann man sie immer noch gefahrlos betreten.
Oben angekommen zünde ich mir eine Zigarette an, lehne mich an das niedrige Geländer und blicke zur Stadt hin, die im Dunkeln glimmt. Deren Anfang vom Schornstein des Heizkraftwerkes markiert wird, der mehr als 170 Meter in die Höhe ragt und der in dieser 
Nacht blau illuminiert ist.
Versunken in das nächtliche Panorama habe ich sie gar nicht kommen hören, blicke ich erst auf, als die Schritte schon ganz nah sind und die, zu der sie gehören, an das Geländer tritt.
„Hast du eine Zigarette für mich?“, fragt eine heisere Stimme, ohne mich dabei anzusehen, aber die schwarzen kurzen Haare um ihren Kopf tanzen, während sie spricht. Und natürlich habe ich eine, strecke ihr das Päckchen entgegen, und kurz darauf das Feuer. Und dann rauchen wir gemeinsam, teilen wir zwar nicht die Zigarette, aber einen Augenblick,in dem absolute Stille herrscht, weil gerade mal kein Fahrzeug über die nahe gelegene Autobahnbrücke rast.
„Alles okay bei dir?“, frage ich, weil ich das Gefühl habe, dass es das nicht ist, und dass mir das nicht egal sein sollte. „Hm“, erwidert sie nur, und blickt mich für einen kurzen Moment an, der mir genügt, um zu sehen, dass sie weint. „Hey...“, mache ich hilflos, und Hilflosigkeit ist es auch, die mich bis heute überkommt, wenn ich an diese Nacht zurückdenke, an den Moment, in dem ich in meinem Jutebeutel nach einem Taschentuch suche.
Und in dem die junge Frau über das Geländer der Brücke steigt, in dem sie in meinen Träumen abhebt und davonfliegt wie die Räbin, an die sie mich erinnert, in der Realität aber in den Fluss springt und augenblicklich unter seiner Oberfläche verschwindet. Ich höre mich noch schreien, weiß noch, dass ich die 112 wähle, während die Kreise unter mir noch größer werden, und dass die Feuerwehr erstaunlich schnell zur Stelle ist. Sie aber auch nicht mehr findet, obwohl in dieser Nacht von allen Brücken der Stadt nach ihr gesucht wird.
Ob ich mir die Geschichte nur ausgedacht habe, will die Polizei später von mir wissen, und obwohl ich schwöre, dass dem nicht so ist, werde ich mir mit jedem Tag unsicherer, den sie nicht in den Vermisstenanzeigen auftaucht.
Und muss ich bis heute an jene Nacht denken, wenn ich einen Raben rufen höre.
 
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