Park am Steinhübel

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Florian Jäger

 

Florian Jäger

*1988, ist Autor und promovierter Psychologe.

Von 2020 bis 2022 studierte er Literarisches Schreiben am Literaturinstitut Hildesheim.
Er schreibt Prosa, Essays und lyrisch-prosaischee Formexperimente.

2021 ist sein Buch Im Rhythmus des Laufens im Egoth Verlag Wien erschienen.
Weitere Texte erschienen 2021 und 2022 in der Kölner Literaturzeitschrift schliff, der Landpartie und dem Panoptic Magazine.

Seit 2022 ist Florian Jäger außerdem Teil des crossmedialen Projekts Dehnungen des Realismus sowie eines Schreibkollektivs, das sich künstlerisch mit Komplizenschaften und dem Umschreiben von Biografie auseinandersetzt.

Nach animierenden Gesprächen mit einem Kommilitonen ist er im Sommer 2022 zum ersten Mal von Berlin aus nach Saarbrücken gereist. Dort hat er eine Woche in einer Souterrainwohnung gelebt und geschrieben – und sich aufrichtig in die Stadt verliebt.

Der hier gelesene Text Die Zahnbürste ist Teil des noch unveröffentlichten Erzählbandes Aus dem Souterrain.

Foto: privat

Die Zahnbürste

Immer wenn ich nach dem Aufstehen oder der Arbeit ins

Badezimmer komme, prüfe ich als erstes, ob die Zahnbürste

daliegt. Wie der Pawlowsche Hund öffne ich die Tür lechzend und

mit erhöhtem Speichelfluss, um pünktlich mit dem Erkennen des

dünnen länglichen Gegenstands in ein Lächeln zu verfallen und

das warme Gefühl des Glücks, das mir großzügig zuteilwird,

dankbar in Empfang zu nehmen. In diesen Momenten merke ich,

dass ich nicht alleine bin. Zwei Mal am Tag liegt die Zahnbürste auf

der Ablage links neben dem Waschbecken, akkurat ausgerichtet,

parallel zur Kante. Auf den harten Borsten ist die Zahnpasta immer

schon ein wenig eingesunken, aber das macht nichts.

Es gibt da diesen Film, Der Tag des Falken. In dem wird einem

Liebespaar durch einen eifersüchtigen Bischoff das Zusammensein

unmöglich gemacht – er ruft eine dunkle Macht an, die die beiden

verflucht: Fortan verliert der männliche Part, Navarre, nachts seine

menschliche Gestalt und wird zum Wolf. Ruhelos streunt er

zwischen Bäumen und Büschen. Sie hingegen, Isabeau, verliert

ihre menschliche Gestalt tagsüber und wird zum Falken. So

können sich die beiden nie als Menschen begegnen, ihre einzige

Verbindung sind die kurzen Momente des Sonnenauf- und -

untergangs.

Unsere einzige Verbindung ist die Zahnbürste.

Während ich am Nachtschalter vom Hotel Bruchwiese arbeite,

ist mein Partner tagsüber für das Zahngoldrecycling am Malstatter

Markt tätig. Wenn mein Partner morgens unsere Souterrain-

wohnung verlässt, liege ich gerade erst schlafend im Bett. Wenn

ich mittags aufstehe, ist er längst im Büro. Und wenn ich am frühen

Abend zur Arbeit gehe, ist er noch nicht wieder zurück. Auch wir

sind verflucht.

Die einzigen Momente, in denen wir uns begegnen – einmal

abgesehen von der Zeit, in der mindestens einer von uns tief

schlafend im Bett liegt – sind die Momente, in denen entweder

mein Partner mir oder ich ihm die Zahnbürste vorbereite.

Diejenigen, in denen wir die vom anderen vorbereitete

Zahnbürste entdecken, und uns mit ihr die Zähne putzen.

Natürlich, diese Art zu leben ist bestimmt nicht, was wir uns

vorgestellt haben, und manchmal bin ich traurig deswegen.

Sicherlich geht es meinem Partner genauso. Aber wir haben die

Hoffnung auf Lösung des Fluchs noch nicht aufgegeben – Navarre

und Isabeau haben es schließlich auch geschafft, und am Ende

den bösen Bischoff besiegt.

Was uns hilft, sind die kleinen Rituale, die sich zwischen uns

eingeschlichen haben. Wir legen die Zahnbürste immer an genau

dieselbe Stelle auf der Badezimmer-Ablage, in einer Distanz von

exakt zwei Zentimetern zur Kante. Da wir Genauigkeit schätzen,

habe ich ein Lineal auf die Fläche gelegt, welches wir beide

nutzen. Wir verwenden die Zahnbürste als Mittel der

Kommunikation. Will einer von uns dem anderen etwas mitteilen,

weichen wir ab von der gewohnten Ordnung, drehen beim

Hinterlegen die Zahnbürste leicht zu einer Seite. Eine Drehung im

Uhrzeigersinn deutet etwas Positives an, gegen den Uhrzeigersinn

etwas Negatives. Der andere bestätigt diese Mitteilung dann,

indem er die Zahnbürste in der exakt selben Weise zurücklegt.

Mag die Verbindung auch klein wirken – es lässt sich eine

Menge aus ihr machen. Man muss nur an Navarre und Isabeau

denken, die hartnäckig um ihre Liebe gekämpft und gewonnen

haben. Und das, obwohl die Verständigung zwischen Mensch und

Falke und Wolf und Mensch sicherlich komplizierter ist als die

zweier Menschen, die immerhin dasselbe Medium zur

Kommunikation nutzen. Die Zahnbürste.

Man muss sich eben etwas einfallen lassen. Das tun wir: Damit

sich wenigstens ein Teil unserer Körperstoffe berührt, benutzen

wir stets dieselbe Zahnbürste. Es ist schön zu wissen, dass die

Bürste, die jetzt durch meinen Mund wischt, ein paar Stunden

zuvor seine Zähne, seine Zunge, seine Lippen berührt hat. Und es

in ein paar Stunden wieder tun wird, nachdem sie meine Zähne,

meine Zunge und meine Lippen berührt hat. Sicher empfindet

mein Partner das genauso.

Und auch auf die Gefahr hin, dass das komisch klingt, muss ich

es einmal aussprechen: Manchmal, wenn ich schon den gröbsten

Schaum ausgespuckt habe, mit ein wenig Wasser die letzten Reste

Zahnpasta gurgle und in einem Schwall ins Waschbecken gebe, ist

mir, als könnte ich den Falken und den Wolf vor mir sehen, auf

einer Wiese oder einem Hügel. Ich höre sie in ihrer Sprache rufen.

Nicht zueinander, nein, einfach hinaus, in die Welt. Ich schäme

mich wirklich deswegen, denn darauf folgt nicht selten ein

erhabenes Gefühl der Freiheit. Und der Gedanke, dass die

erzwungene Trennung im Grunde gar kein Fluch, sondern das

genaue Gegenteil ist, ein Segen. Ich grinse dann immer etwas

blöd in den Spiegel und vergesse für einen Moment, dass ich nicht

allein sein kann.

 
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